
von FLORIAN PASTERNY
Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr. Doch hier nicht nur in der Frage nach der Klassenzugehörigkeit in Bourgeoisie, Proletariat, Mittelstand oder Oberschicht - sondern im Kern auf die Art des Genießens. Wir distinguieren eine gefährliche Mischung aus genormter Spaßkultur und dem, was uns wirklich Freude bereitet. Die obsolete Denkweise des Genießens verflüchtigt sich sukzessive in eine Pflicht der Nachhaltigkeit und diese lässt sich nur schwer moralisch desavouieren.
Der Mensch möchte nicht überrascht werden und im Grunde braucht er die Macht, Dinge selbst zu verändern. Man will nicht akzeptieren, dass das Leben per Definition aber doch ungewiss ist. Mit der Endlichkeit dessen, hat man sich abgefunden - mit der fehlenden Kontrollierbarkeit nicht. Der Genuss bleibt dabei selbstredend auf der Strecke. Das delegierte Genießen erreicht in unserer heutigen Zeit seinen Höhepunkt.
Zum besseren Verständnis werfen wir einen Blick auf ein paar Beispiele:
- Bei der letzten IAA konnte man sehr gut erkennen, dass die Besucher, Politiker und Manager ihren Blick auf die Elektrofahrzeuge gelenkt hatten. Hier reden wir vom Genuss der Nachhaltigkeit - dazu später mehr. Würden wir die Moral desavouieren und uns dem wahren Genuss hingeben, dann wären die Blicke bei den Sportwagen und Luxuslimousinen. Für den reellen Genuss bedarf es keiner Moral und keines erhobenen Zeigefingers. Es reicht das eigene Wohlbefinden, welches wir aber - impliziert in die vergessene Verdorbenheit und delegierte Gesellschaft - nicht mehr fühlen.
- Das zweite Beispiel macht es noch deutlicher. Kaum jemand mag Alkohol und doch trinken ihn fast alle mit - ja womit? - mit Genuss. Reeller Genuss ist das aber nicht. Hier haben wir eines der deutlichsten Zeichen für den delegierten Genuss. Es gibt etwas zu feiern, dann trinkt man eben Alkohol. Es ist Samstagabend - Cocktails pur. Beim Fussball darf das Bier nicht fehlen und selbst beim Weihnachtsessen genießen wir diese bittere rote oder weiße Plörre. Kommen wir auf die Idee, beim Kaffee und Kuchen mit Oma ein Bierchen zu zischen, oder einen Rotwein zu Fischstäbchen und Spinat zu servieren, würden wir uns im reellen Genuss wiederfinden.
- Kommen wir auch noch zu einem Beispiel für die jüngeren Leser. Sie alle kennen die amerikanischen Sitcoms mit eingespielten Lachern. Ob es nun King of Queens, What's Up Dad oder etwas anderes ist. Man braucht diese Serie nur einzuschalten, abzuschalten, und hat am Ende das Gefühl, dass man bestens unterhalten worden ist obwohl man selbst nicht gelacht hat. Die Beklemmung, nicht lachen zu können, wird hier abgenommen. Es ist dann ein befreiendes Gefühl. Das ist delegierter Genuss.
Wir erfreuen uns an den Leistungen anderer. Ganz deutlich wurde dies bei der Fußball WM 2006 im eigenen Land. Keiner von uns stand auf dem Platz und dennoch haben wir uns selbst zu dieser tollen Leistung gratuliert und uns daran erfreut. Wir schauen 20 mal mehr Pornos im Leben, als das wir Sex haben. Wir tragen Jack Wolfskin Kleidung obwohl dieser keinen Schritt schöner oder funktionaler ist. Wir nehmen Filme auf, die wir nie sehen werden - der Recorder schaut sie für uns. Es gibt über 30 deutsche Fernsehprogramme. Wir selbst können nur eins schauen - wer schaut den Rest? Kuratoren nehmen uns die Kunstbetrachtung ab. Die Klageweiber ersetzen das eigene Trauern um einen geliebten Menschen. Und wofür brauchen wir einen Lachsack?
Der Mensch möchte gerne irgendwo mitmachen können. Und wenn es nur darum geht die Umwelt zu retten, zu lachen oder eben einen zu trinken. Das uns Inaktivität zum reellen Genuß verhilft ist nicht kognitiv. Deswegen können wir auch selbst nicht viel dagegen tun. Die Interpassivität überträgt unseren Genuss, wie auch unsere Leidenschaft auf andere Personen oder Objekte, in der Hoffnung, uns damit wohl zu fühlen.
Immer wieder gibt es Trends, die belegen, dass etwas anderes gerade sehr genussvoll sein muss. Nach dem Krieg war es die Völlerei, in den 70ern die freie Liebe, und seit dem Wechsel ins neue Jahrtausend ist es der Umweltschutz und die Bio-Völlerei. Reeller Genuss ist keine Frage des Geldes. Denn eine Packung Milch aus dem Aldi schmeckt vielleicht noch besser als die Milch vom Bauern um die Ecke. Das Gefühl, dass es Milch vom Bauern ist, und damit gesund, ist das tückische beim Genuss. Auch Bio-Lebensmittel schmecken nicht besser als normale - außer der delegierte Genuss gibt uns das vor.
Der reelle Genuss ist pleonastisch geworden, seit dem der Menschen denken kann. Würden wir mehr den reellen Genuss aggregieren wären wir vermutlich glücklicher aber einsamer.
Florian Pasterny