Margot Friedländer – Eine Stimme, die niemals verstummen darf

@CC BY-SA 4.0 Martin Kraft
@CC BY-SA 4.0 Martin Kraft

von FLORIAN PASTERNY

 

In einer Welt, die sich mit jedem Tag weiter von ihren ureigensten Lehren entfernt, ist der Tod von Margot Friedländer ein Erschüttern im innersten Gefüge unserer kollektiven Erinnerung. Sie war nicht nur Zeitzeugin, nicht nur Holocaust-Überlebende, nicht nur Mahnerin – sie war ein lebendes Ethos. Ihr Leben war ein Manifest der Menschlichkeit im Angesicht des Unmenschlichen.

 

Ich habe geweint. Wie so viele.

 

Nicht weil ein Mensch starb, sondern weil mit ihr ein Stück moralischer Kompass ging. Margot Friedländer war eine Chiffre der Hoffnung gegen das Vergessen. Sie war ein Bollwerk gegen das Wiedererstarken jener Kräfte, die einst versuchten, sie und alles Jüdische auszulöschen – und die heute wieder beängstigend laut werden. Ihr Tod ist nicht nur ein Verlust – er ist ein Prüfstein: Werden wir weitertragen, was sie verkörperte?

Was Margot Friedländer von anderen Zeitzeugen unterschied, war ihre unfassbare Integrität. Ihre Fähigkeit zur Transzendenz – über Hass, über Schmerz, über das Menschlich-Allzumenschliche hinaus – war nicht nur bemerkenswert, sie war zutiefst philosophisch. Es war, als ob sie mit einem inneren Eudaimon sprach, einer Stimme der Vernunft, des Gewissens, der unbedingten Liebe zur Wahrheit.

 

Sie sah in den Gesichtern der Jugend nicht nur ihre Zuhörer, sondern ihre Hoffnung. Margot trat nicht auf, um Schuld zu verteilen, sondern um Verantwortung zu entfachen. Ihre Reden waren nie bloße Rekapitulationen traumatischer Biografie – sie waren existenzialistische Appelle an die Ethik des Einzelnen, getragen von einem tiefen humanistischen Pathos.

 

Dass sie den Mut hatte, den Ort ihrer größten Verluste – Berlin – wieder zu ihrem Zuhause zu machen, ist nicht einfach biografische Anekdote. Es ist eine ethische Geste von nahezu sakraler Größe. Sie begegnete Tätern und Mitläufern nicht mit Rache, sondern mit dem unerschütterlichen Willen zum Diskurs. Ihr Umgang mit den Nachgeborenen der Täter war kein Akt der Vergebung im herkömmlichen Sinne, sondern ein Akt der radikalen Verantwortungsübernahme für das Ganze – für das, was wir Gesellschaft nennen.

 

Ich bewundere sie nicht nur für das Überleben. Ich bewundere sie für das, was sie aus dem Überleben gemacht hat. Ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit, ihre stoische Wiederholung der Namen, der Zahlen, der Orte – es war ein Widerstand gegen die Trägheit des Vergessens. Sie war eine Chronistin nicht des Grauens, sondern des Gewissens.

 

In einer Zeit, in der Rechtsextremismus wieder salonfähig wird, in der demokratische Institutionen angegriffen und plurale Gesellschaftsmodelle verächtlich gemacht werden, war Margot Friedländer ein monumentales Symbol der Resilienz. Sie stand wie ein Monolith inmitten der Erosion unserer historischen Wachsamkeit.

 

Ihr Kampf gegen Rechts war nicht polemisch, sondern ontologisch. Sie stellte die Existenzfrage an unsere Zeit: Was bedeutet es, Mensch zu sein – angesichts des Unmenschlichen?

 

Wenn Margot sprach, schwieg der Zynismus. Ihre Würde war unantastbar, weil sie auf der tiefsten Form von Erfahrung beruhte – der Erfahrung, alles verloren zu haben und dennoch alles zu geben: Stimme, Herz, Geduld.

 

Ich habe geweint, weil ich in ihr eine Instanz verlor, an der ich mich orientieren konnte. Eine Frau, die nicht nur das Lager überlebte, sondern den Zivilisationsbruch in sich transformierte zu etwas Größerem: zu einem flammenden Plädoyer für Erinnerung, Empathie und Aufrichtigkeit.

Margot Friedländer ist nicht tot. Sie ist Gegenwart, Mahnung, Vermächtnis.

 

Die letzte Zeugin ist gegangen – aber ihr Zeugnis bleibt. Und es verpflichtet.

 

Florian Pasterny

 

 

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