Zwischen Solidarität und Zweifel: Mein moralischer Graben im Blick auf Israel und Gaza

von FLORIAN PASTERNY

 

Ich bin ein Freund Israels. Und das sage ich nicht leichtfertig. Ich bin es aus Überzeugung, aus historischer Verantwortung, aus einem tiefen ethischen Imperativ heraus. Als Deutscher empfinde ich es als meine unerschütterliche Pflicht, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten – nicht als ritualisiertes Gedenken, sondern als lebendige Mahnung, die in jede Faser unseres gesellschaftlichen und politischen Handelns hineinstrahlen muss.

 

Seit Jahren setze ich mich für Israel ein. Ich habe Israel verteidigt – in hitzigen Diskussionen, in öffentlichen Debatten, in meinen Artikeln, in Gesprächen mit Freundinnen und Freunden. Ich habe immer wieder erklärt, warum der jüdische Staat mehr ist als ein politisches Gebilde –

nämlich ein Symbol für das Überleben, für Resilienz, für den Triumph des Lebens über das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte.

 

Ich habe mich nie gescheut, klar Position zu beziehen gegen Antisemitismus, gegen Relativierungen, gegen die groteske Dämonisierung Israels, die in gewissen Kreisen längst zum reflexhaften Habitus geworden ist. Und doch stehe ich heute an einem Punkt, an dem ich innehalte. An dem ich zweifle. An dem ich erschöpft und verstört auf das blicke, was sich derzeit in Gaza ereignet.

 

Denn was Benjamin Netanyahu und seine Regierung derzeit im Gazastreifen veranstalten, lässt sich – zumindest für mich – nicht mehr im Lichte legitimer Selbstverteidigung deuten. Es berührt etwas in mir, das tiefer geht als politische Analyse. Es zerreißt mich innerlich. Es macht mich wütend. Sprachlos. Traurig. Und – ja – auch enttäuscht.

 

Ich weiß um die Abgründigkeit des 7. Oktobers 2023. Ich weiß, was die Hamas angerichtet hat – mit welcher Brutalität, mit welcher entmenschlichten Grausamkeit. Und ich habe gezittert mit Israel. Gehofft auf Sicherheit, auf die Rückkehr der Geiseln, auf ein Ende des Terrors. Der Schmerz Israels ist auch mein Schmerz.

 

Doch mit jedem weiteren Angriff, mit jeder toten Zivilistin, mit jedem verhungerten Kind, mit jeder zerstörten Schule, jeder bombardierten Klinik, wächst in mir der Eindruck, dass sich hier etwas verselbständigt hat – dass aus Verteidigung eine Strategie der Vergeltung geworden ist. Und diese ist – philosophisch gesprochen – kein legitimer Akt, sondern eine ethische Entgleisung.

 

Es ist nicht Israel, das handelt. Es ist eine Regierung, deren Handeln zunehmend autoritäre, destruktive Züge annimmt. Die Trennung zwischen Staat und Exekutive, zwischen Kollektiv und politischer Führung, ist nicht nur juristisch bedeutsam, sondern moralisch essenziell. Wer Israel kritisiert, kritisiert nicht automatisch das jüdische Volk. Wer Netanyahu anklagt – wie es der Internationale Strafgerichtshof nun tut – klagt keine Religion an, sondern eine Verantwortungslosigkeit, die im Namen der Sicherheit das Menschliche aus dem Blick verliert.

 

Ich ringe mit mir. Ich taste nach Worten, wo das Verstummen näher liegt als das Sprechen. Denn es ist schwer, das Unaussprechliche auszusprechen. Zu sagen: Ich verstehe Israel – aber ich verstehe nicht mehr, was Israel gerade tut.


Und vielleicht ist genau dieses Paradoxon das, was mich innerlich zerreißt. Dass ich es nicht einfach in Schwarz und Weiß einteilen kann. Dass ich nicht aufhören will zu lieben – aber auch nicht bereit bin, meine moralische Integrität zu opfern, nur weil ich Angst habe, missverstanden zu werden.

In dieser Spannung lebt meine Solidarität. Sie ist nicht bedingungslos – denn bedingungslose Solidarität kennt keine Verantwortung. Aber sie ist tief, aufrichtig und erwachsen. Ich glaube, dass echte Freundschaft auch das kritische Wort aushält. Dass sie gerade dann bestehen muss, wenn der andere einen gefährlichen Pfad beschreitet. Und dass Kritik nicht das Ende von Verbundenheit ist – sondern ihr Lackmustest.

 

Philosophisch gesprochen: Es gibt einen Unterschied zwischen Loyalität und blinder Gefolgschaft. Der eine ist ethisch begründbar, die andere gefährlich. Ich habe mich für Ersteres entschieden.

 

Ich bleibe Israelfreund. Mehr denn je. Aber ich bleibe auch Mensch. Und als solcher kann ich nicht wegsehen, wenn das Menschsein auf der Strecke bleibt. Nicht in Gaza. Nicht anderswo.


Was ich mir wünsche? Einen Diskurs, der diese Ambivalenz zulässt. Der nicht sofort verurteilt, wer differenziert. Der Trauer, Liebe, Zorn und Entsetzen nebeneinander stehen lässt – weil genau das die Essenz von Humanität ist.

 

Und vielleicht liegt darin die leise Hoffnung, die bleibt: Dass aus dieser inneren Zerrissenheit kein Bruch entsteht – sondern eine tiefere Form der Verbundenheit. Eine, die sich traut, hinzusehen. Und zu sagen: Ich bin dein Freund. Und genau deshalb kann ich nicht schweigen.

 

Hannah Arendt schrieb einmal:
"Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut."

 

Dieser Satz begleitet mich in diesen Tagen. Und er mahnt mich – zum Denken. Zum Fühlen. Und zum Sprechen.

 

Florian Pasterny

 

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