
von FLORIAN PASTERNY
Der Alltag ist kein Witz. Er ist eine Zumutung. Und zwar nicht, weil er uns mit Tragödien überfällt, sondern weil er uns mit seinem endlosen Mittelmaß zermürbt. Das Leben, so sagt man, bestehe aus Momenten – aber die meisten davon riechen nach abgestandenem Kaffee, nicht nach Abenteuer. Zwischen Brotdosen, Zahnarztterminen und der Frage, ob noch Klopapier im Haus ist, gerät die Vorstellung vom sinnvollen, erfüllten Dasein oft zur Fußnote am Rand des Einkaufszettels. Und genau darin liegt das philosophische Gift.
Denn es ist nicht der große Schmerz, der uns innerlich versteinern lässt. Es ist die Wiederholung. Die Monotonie. Das Immergleiche. Die Tatsache, dass wir morgens um sieben aufstehen, obwohl unsere Seele noch schläft, und abends Netflix starten, obwohl unsere Gedanken längst auf Wanderschaft gegangen sind. Wir existieren – aber leben wir? Oder verwalten wir bloß unser Dasein mit dem Elan eines schlecht gelaunten Finanzbeamten?
Albert Camus schrieb, der wahre existenzielle Skandal sei nicht der Tod, sondern das absurde Leben davor. Der Mann hatte recht. Es ist nicht der Sinnverlust im Angesicht des Endes, der uns mürbe macht – sondern das verstohlene Gefühl, dass wir Tag für Tag an unserem eigenen Leben vorbeileben, während wir den Biomüll runterbringen. In dieser absurden Konstellation wird der Alltag zur Bühne des metaphysischen Dramas: Wir schleppen uns von Termin zu Termin und hoffen auf ein Wochenende, das dann doch wieder zu kurz ist, zu laut oder zu leer. Und irgendwo dazwischen sitzt das Ich und fragt sich, wann es das letzte Mal wirklich wach war.
Das Tragische daran: Wir haben das Banale entwertet. Wir halten das Große für das Wahre. Wir suchen Erfüllung in Momenten mit Instagram-tauglicher Ästhetik und übersehen dabei, dass der tiefste Sinn womöglich im Spülwasser liegt. Vielleicht ist der echte Beweis von Reife ja nicht, ob wir Gedichte schreiben können, sondern ob wir fähig sind, beim Zähneputzen zu denken, ohne dabei geistig zu implodieren. Vielleicht beginnt Bewusstsein da, wo wir aufhören, uns vor der Routine zu verstecken.
Kierkegaard würde uns auslachen – oder bedauern. Er wusste, dass das Gewöhnliche das eigentlich Gefährliche ist, weil es uns so leicht entgleitet. Wer glaubt, nur in der Krise zu sich zu finden, verpasst die eigentliche Prüfung: das ganz normale Leben. Denn darin lauert die größte aller Zumutungen – wir selbst. Ohne Drama, ohne Notfall, ohne Ausrede. Nur wir, das Geschirr, die Zahnpastatube, und das leicht gereizte „Was hast du gesagt?“ aus dem Nebenzimmer.
Und weil das nicht auszuhalten ist, erfinden wir Ablenkung. Scrollen, streamen, shoppen. Hauptsache nicht die Stille hören, in der das Leben heimlich an uns vorbeizieht. Dabei ist es womöglich genau diese Stille, die uns retten könnte. Nicht die große Reise nach außen, sondern die kleine nach innen. Die Bereitschaft, dem Alltag Würde zu geben, statt ihn als lästige Vorstufe zum echten Leben abzutun.
Der Alltag ist ein philosophischer Test. Keine rhetorische Frage, sondern eine stille Konfrontation: Wer bist du, wenn nichts los ist? Wer bist du in der fünften Warteschleife der Woche? Wer bist du, wenn du das fünfte Mal den Legostein vom Boden aufhebst, obwohl du beim vierten Mal schon beschlossen hattest, auszuziehen?
Vielleicht ist der Alltag kein Gefängnis, sondern ein Spiegel. Kein Feind, sondern ein Prüfstein. Und vielleicht beginnt das gute Leben genau dort, wo wir aufhören, ihm ständig zu entkommen – und stattdessen beginnen, es auszuhalten. Oder, im besten Fall: zu bewohnen.
Florian Pasterny
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